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WAS MACHT EIGENTLICH?

Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt
Der Münchner war jahrelang Mannschaftsarzt des FC Bayern München und der Nationalmannschaft

Artikel im Stern vom 04.01.2024

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Artikel im Stern vom 04.01.2024 

Von Sabine Hoffmann

Müller-Wohlfahrt, 1942 im ostfriesischen Leerhafe geboren, wurde in Berlin zum Facharzt für Orthopädie und Sportmedizin ausgebildet. Als Mannschaftsarzt betreute er bis 2020 den FC Bayern sowie von 1995 bis 2018 das DFB-Team (o. 2006 mit Michael Ballack). Er behandelte außerdem viele Künstler und Musiker, etwa Eric Clapton, der ihm zum Dank eine Gitarre schenkte. Müller-Wohlfahrt betreibt in der Münchner Innenstadt eine 1600 Quadratmeter große Praxis mit mehreren angestellten Ärzten.

Top-Sportler trainieren vor großen Veranstaltungen sehr hart und ziehen sich dabei oft Muskelverletzungen zu. Wie viele spätere Weltmeister waren zur Behandlung bei Ihnen?

Bei der letzten Leichtathletik-WM in Budapest waren es deutlich mehr als eine Handvoll. Das ist immer So vor Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen. Kurz vor der Basketball-WM war Dennis Schröder noch zur Behandlung bei mir. Es hat mich unglaublich gefreut, dass er durch seine überragende Leistung Deutschland zur Welt-meisterschaft geführt hat.


Sie gelten weltweit als Koryphäe. Waren Sie schon als Schüler ehrgeizig?

Nein, wirklich nicht. Ich fiel einmal durch und drohte sogar von der Schule zu fliegen, weil ich So viel Blödsinn machte.


Dennoch wurde ein Mediziner aus Ihnen: Ab 1975 betreuten Sie Hertha BSC Berlin als Mannschaftsarzt, ab 1977 dann den FC Bayern. Wie war damals die Stimmung?

Wir waren wie eine große Familie, machten zusammen Ausflüge, feierten Geburtstage und Grillfeste. Unsere Frauen und Kinder waren immer dabei. Jedes Mal, wenn ich zum Training kam, gab es anschließend Kaffee und Kuchen.


Ihre Fähigkeit, Muskelverletzungen mit den Fingern zu ertasten, ist legendär. Wie viele Oberschenkel haben Sie im Laufe der Jahre angefasst?

Weit über 30000. Ich untersuche mit geschlossenen Augen, blende alles um mich herum aus, tauche mit den Fingerkuppen in die Muskulatur ein, finde mich in der Anatomie zurecht und spüre Verletzungen auf. Darauf kann ich mich verlassen und mache mich nicht abhängig von der Kernspinuntersuchung. 

Nur vier Tage vor Beginn der Olympischen Spiele 2016 flogen Sie nach Rio, um Usain Bolt zu behandeln. Er holte Gold, widmete Ihnen seine Medaille. Wie kam es dazu?

Usain simste mir, dass er das Training wegen Muskelschmerzen abbrechen musste, und fragte, was er jetzt tun könne. Ich war gerade im Familienurlaub in Frankreich. Mir war klar: Jetzt zählt jede Stunde. Am nächsten Morgen war ich in Rio. Damit niemand davon erfuhr, trafen wir uns in einem Apartment. Mit meinen Fingern ertastete ich einen zum Reißen gespannten Muskelstrang im Oberschenkel, behandelte mit meinen Nadeln punktgenau die ursächliche Nervenwurzelreizung im Lendenwirbelbereich. Usain gewann den 100-Meter-Lauf und schenkte mir einen der bewegendsten Momente in meinem Leben als Sportarzt, indem er mir seine Goldmedaille widmete.

 

Haben Sie noch Kontakt?

Ja, er besucht uns immer wieder in München und kommt am liebsten zur
Oktoberfestzeit. Wir haben einen Riesenspaß, wenn er in Lederhosen
auf der Bühne die Kapelle dirigiert und die Mädels meiner Praxis im 
Dirndl neben ihm tanzen.

 

2022 veröffentlichten Sie ein Buch über Bewegung. Was bewegt heute Ihr
Leben?

Meine Praxis. Ich bin glücklich, wenn ich sie betrete, und ich freue mich über alle Herausforderungen. Früher ging’s es bis elf Uhr nachts. Das macht meine Frau aber nicht mehr mit. Jetzt höre ich spätestens um acht Uhr abends auf. Das Buch war eine Herzensangelegenheit. Ich möchte die Gesellschaft zu mehr Bewegung und damit Gesunderhaltung motivieren. Ich selbst sehe es als meine Pflicht, zweimal in der Woche abends laufen zu gehen. 

Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt zählt zu den berühmtesten Ärzten Europas. Er erklärt, was uns zu schnell altern lässt, und gibt besondere Tipps für Gesundheit und Ernährung im Alltag

"nur nicht bequem werden!"

Artikel in der Welt am Sonntag vom 17. Dezember 2023

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Artikel in der Welt am Sonntag vom 17. Dezember 2023

Von Julien Wolff

Freitagnachmittag in der Praxis von Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, 81, in der Münchner Innenstadt. Ein Fußball-Profi ist an diesem Tag einer der letzten Patienten des wohl bekanntesten Sportmediziners Europas. Müller-Wohlfahrt, der auch Basketball-Star Dennis Schröder und viele Football-Profis aus den USA behandelt, ist wie jeden Tag seit acht Uhr früh bei der Arbeit. WELT AM SONNTAG empfängt er zum Gespräch in einem Ledersessel.

 

WELT AM SONNTAG: Was hat Sie in diesem Jahr medizinisch ganz besonders beschäftigt?

Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt:

Ich hatte Kontakt aufgenommen zu einer Reihe von Fachleuten und danach aufgrund persönlicher Erkenntnisse und Erfahrung eine eigene Behandlungsmethode frei von Schmerzmitteln entwickelt. Auslöser ist immer eine anhaltende Muskelverspannung bis Verkrampfung im Bereich der oberen Halswirbelsäule mit der Folge einer Verhärtung ihres sehnigen Ansatzes am Hinterkopf, insbesondere des M. Semispinalis. Der unter der Verhärtung verlaufende Nervus occipitalis major erleidet dadurch einen starken Druck und verursacht äußerst heftige Schmerzen in seinem gesamten Versorgungsgebiet. Darüber hinaus wird der N. trigeminus stimuliert und aktiviert, der mit dem N. occipitalis verschaltet ist und im Bereich der Schläfe und Stirn nahezu unerträgliche Schmerzen verursacht und für das Druckgefühl hinter den Augen verantwortlich ist. Der Nervus vagus kann mitbetroffen sein und Magensymptome wie Übelkeit auslösen. Eine Patientin sagte Anfang des Jahres zu mir: „Ich lebe kein Leben!“ Sie war arbeitsunfähig. Heute ist sie schmerzfrei und reist mit ihrem Wohnmobil durch Europa.Sie kann ihr Leben wieder genießen.

Wie konkret konnten Sie helfen?

Ich erwarte von meinen Migräne-Patienten, dass sie solche Mittel vor der Behandlung bei mir absetzen. Die Ursache liegt im Bereich der oberen Halswirbelsäule. Die Behandlung dort besteht in der Lockerung der verkrampften Muskeln mittels Infiltrationen, Aufweichung der verhärteten Muskelsehnenansätze am Hinterkopf, Mobilisierung des oft blockierten Halswirbels C1 durch unseren Osteopathen. Die Patienten sind nach wenigen Behandlungen stabil schmerzfrei.

Sie beschäftigen sich auch intensiv mit der Wirbelsäule. Weshalb?

Weil die Wirbelsäule in ihrer Bedeutung allzu oft unterschätzt wird. Die Wirbelsäue ist die Schaltzentrale unseres Körpers, das zentrale Achsenorgan des Menschen. Von hier aus werden über motorische Nervenbahnen die Muskeln von Armen, Beinen und Rumpf gesteuert und koordiniert. Schäden oder Funktionsstörungen im Bereich der Wirbelsäule können empfindliche motorische Störungen, Schmerzen oder auch Muskelverletzungen im Sport verursachen.

Schätzungen zufolge haben 80 Prozent der Menschen in den westlichen Industrienationen mindestens einmal Schmerzen an der Wirbelsäule, wegen der sie sich an Ärzte wenden müssen.

Das liegt vor allem an den Lebensgewohnheiten. Wir sitzen viel zu viel – im Auto, auf dem Sofa, bei der Arbeit. Und wir bewegen uns zu wenig. Das geht schon bei den Kindern los. Leider wird die Schule ihren Pflichten in dieser Hinsicht nicht mehr gerecht, das regt mich auf. Sportunterricht fällt viel zu oft aus. Pro Woche müssten es mindestens drei Stunden Sport sein. Schulsport hat bei uns in Deutschland einen viel zu geringen Stellenwert. Zudem fehlen Grünflächen zum Toben. Da haben uns andere Länder einiges voraus. Die Kinder in unserem Land sitzen bis zu acht Stunden am Tag – das kann nicht sein. Studien haben ergeben, dass Kinder, die Sport treiben, aufnahmefähiger und wohl auch klüger sind. Bewegung ist das Lebenselixier des Menschen.

Wie können Erwachsene gegen die Folgen des vielen Sitzens anarbeiten?

Ein Stehpult beim Arbeiten kann helfen. Beim Telefonieren aufstehen und im Büro auf und ab gehen oder auch gymnastische Übungen am Arbeitsplatz soweit dies möglich ist. Je älter wir werden, desto schwächer wird die Muskulatur. Umso mehr müssen wir tun. Anderenfalls gibt es sehr viele Begleitschäden und schlimme Erkrankungen wie Migräne, Tinnitus und Schwindel, alles von der Halswirbelsäule ausgehend. Und Probleme, die von der Lende her rühren: Hexenschuss und Ischias-Beschwerden zum Beispiel. Den Menschen fehlt aufgrund von Bewegungsmangel oft das Muskelkorsett, das die Wirbelsäule zusammenhält. Beim Thema Bewegung gibt es keine Ausreden. Nur Bewegung setzt die nötigen Reize für Muskeln, Knochen und Knorpel. Der Schlaf, die Verdauung und das Immunsystem können mit der Bewegung auch verbessert werden. Auch der Herzmuskel muss durch Sport trainiert werden. Unser gesamtes körperliches System lebt von der Bewegung. Nur nicht bequem werden! Und: Nur bei Muskelarbeit wird Fett verbrannt.

Wie oft treiben Sie Sport?

Zweimal pro Woche gehe ich laufen. Egal, wo ich bin. Ich habe meine Laufschuhe auf jeder Reise dabei. Kürzlich bekam ich eine Stirnlampe geschenkt, war damit sogar im Nebel laufen. Herrlich! Ich habe im Winter und Sommer dieselbe Laufkleidung an, verzichte auf eine Mütze. Nicht empfehlenswert – aber ich will mich abhärten.

Viele nehmen sich für 2024 eine gesündere Ernährung vor. Was sind hierbei die wichtigsten Grundsätze?

In jungen Jahren kannst du dich genüsslich satt essen und brauchst keine Nahrungsergänzungsmittel – im Alter aber braucht es die sehr wohl. Etwa ab 65 Jahren können wir nicht mehr so viel Nahrung zu uns nehmen, wenn wir unser Gewicht halten wollen. Aber wo sollen dann die lebensnotwendigen Nährstoffe herkommen? Eine Reihe von Nährstoffen ist unbedingt empfehlenswert.

Welche?

Aminosäuren zum Beispiel, von denen es acht essenzielle gibt, die der Körper nicht selbst produzieren kann. Unser Gehirn ist leistungsfähiger, wenn alle Aminosäuren ausreichend vorhanden sind. Der Körper baut beispielsweise aus der Aminosäure Tryptophan zusammen mit Zink, Folsäure und B-Vitaminen den Botenstoff Serotonin, das für positive Energie sorgt. Ich habe viele Patienten, die sich vitaler und wohler fühlen, seitdem sie Aminosäuren ergänzen. Wir können dem Gehirn und jeder Körperzelle damit helfen zu regenerieren. Ab 75 Jahren sind Aminosäuren als Nahrungsergänzungsmittel in meinen Augen ein Muss. Viele Internisten sagen: „Das braucht es alles nicht.“ Ich sehe das anders – und stehe dazu.

Was braucht es noch?

Häufig Zink, Magnesium und Vitamin D3. Hier sehe ich die meisten Defizite. Zink ist ein Katalysator für die Neubildung von Eiweißstrukturen und stärkt das Immunsystem. Der Zinkwert muss im Normbereich sein! Magnesium sorgt für Herzkraft, bei etwa 70 Prozent aller Herzinfarkte liegt ein Magnesiummangel vor. Vitamin D3 unterstützt den Knochenstoffwechsel und das Immunsystem. Auch die Harnsäure sollte man beachten. Leider spielt sie in Deutschland eine viel zu kleine Rolle.

Inwiefern?

Die Obergrenze der Harnsäure im Blut wird sehr unterschiedlich gesehen, von sechs bis acht Milligramm pro Deziliter. Ein zu hoher Wert führt zu Knorpelerweichung, Bandscheibenschäden und Bindegewebeschwäche. Herzkranzgefäßerkrankungen sind oft auf Kalkablagerungen zurückzuführen. Ich sehe auf Röntgenbildern häufig, wie Kalkplaques sich in den Arterien der Patienten abgelagert haben. Und stelle dann unverhältnismäßig oft erhöhte Werte der Harnsäure und des Cholesterins fest. Ist der Blutdruck dann auch noch zu hoch, so muss man mit der Ausbildung einer Arteriosklerose rechnen.

Wie kann man vorbeugen?

Regelmäßige Laboruntersuchungen vornehmen. Wo stehe ich? Was geht in meinem Körper vor? Wo habe ich Defizite? Ich schwöre auf Laboruntersuchungen. Das ist kein großer Aufwand.

Was raten Sie bei der Ernährung?

Wir müssen regional und saisonal denken. Man sollte sich öfter fragen: Was gibt die Jahreszeit in meiner Region her? Grünkohl im Winter zum Beispiel ist sehr gesund. Schwarzwurzeln und Kohl sind etwas aus der Mode gekommen,aber empfehlenswert. Mit Weizenmehl, zum Beispiel in Pasta und in Weißbrot, zurückhaltend sein. Gerade im Alter muss die Auswahl der Lebensmittel noch überlegter sein. Nur wenig Fleisch, wenig Milchprodukte. Ich muss immer wieder feststellen, dass viele sich zu einseitig ernähren.

Welche Folgen hat das?

Dadurch übersäuert der Körper allzu oft. Grund ist meist Unwissenheit. Es ist erschreckend, wie sich diese Übersäuerung auf das Bindegewebe auswirkt. Ich sehe solche Fälle jeden Tag. Durch die Säure wird das Bindegewebe kompakt. Es wird beinahe undurchlässig. Was die meisten nicht wissen: Die Nährstoffe, die zur Körperzelle gelangen müssen, werden in der Endstrecke nicht mehr über Gefäßkapillaren transportiert, sondern über das Bindegewebe. Die Nährstoffe kommen also nicht mehr oder in vermindertem Maße ans Ziel. Wissen Sie, was das bedeutet? Alterung! Die Zelle verkümmert. Und der Mensch altert viel früher. Ich kann also am Bindegewebe fühlen, ob sich jemand gesund ernährt.

Was hilft gegen Übersäuerung?

Äpfel und Bananen zum Beispiel wirken basisch. Sie neutralisieren Säure. Genauso wie Kartoffeln oder grünes Blattgemüse. Da müssen sich Interessierte einfach mal schlau machen, es gibt so gute Ernährungsbücher. Die Menschen sollten sich nicht nur Rezepte besorgen, sondern sich inhaltlich mehr mit dem Thema Ernährung beschäftigen. Sie müssen sich mehr mit ihrer Gesundheit auseinandersetzen. Jeder ist sich selbst gegenüber verpflichtet, gewissenhaft mit seinem Körper umzugehen.

Immer mehr Menschen leiden unter Rückenproblemen. Was ist die richtige Methode zur Diagnose?

Rückenschmerzen sind zur Volkskrankheit geworden. Kernspinbilder können bei der Diagnostik helfen, sind aber nicht alles. Auf den Bildern sieht man nicht die funktionellen Störungen oder Verletzungen. Wenn ein Muskel verkrampft ist, kann man das auf den Kernspinbildern nicht erkennen. Eine Muskelzerrung oder eine neurogene Muskelverhärtung kann ein Radiologe nicht sehen. Viele Ärzte verlassen sich ausschließlich auf Kernspinbefunde. Ein einfacher Weg! Aber die theoretischen Befunde stimmen oft nicht mit den praxisbezogenen Untersuchungsergebnissen überein.

Wo wir beim Thema Sitzen waren: Oft entstehen dadurch Nackenschmerzen. Wie lassen sich diese vermeiden oder behandeln?

Ich empfehle, morgens mit ansteigender Wärme zu duschen. Dabei die rechte Hand außen an den rechten Oberschenkel legen, die Schultern betont unten lassen und den Kopf zur linken Seite neigen. Dafür etwas Zeit nehmen. Danach dasselbe auf der anderen Seite. Man spürt danach eine Entspannung in den Schultern und im Nacken. Zudem gibt es eine weitere effektive Übung für die Lende, die ebenfalls morgens im Bad einfach durchzuführen ist: Sich schulterbreit in gebührendem Abstand je nach Körpergröße vor das Waschbecken stellen, daran festhalten und den Po bei gestreckten Beinen langsam nach hinten drücken. Immer noch ein bisschen weiter. Dann die eine Seite mehr betonen und danach die andere. Wer morgens steif aus dem Bett kommt, ist nach diesen recht simplen Übungen frei von Verspannungen.

Wer im neuen Jahr gesünder leben möchte – welchen Grundsatz geben Sie ihm oder ihr mit auf den Weg?

Man sollte sich mit einer Sportart anfreunden, die einem Spaß macht. Ohne Sport geht es nicht. Ein Wohlfühl-Gefühl gibt es nur in Verbindung mit Bewegung. Filme, Bücher und Computer sind notwendig – aber das fördert nicht die Gesundheit.

Welchen Sport empfehlen Sie für Ältere?

Fußball und Handball eher nicht, da die Verletzungsgefahr bei Untrainierten recht groß ist. Aber es gibt so viele Möglichkeiten: Fahrradfahren, Laufen, Walken – die berühmten 10.000 Schritte pro Tag kann man damit locker schaffen. Wer Gelenkprobleme hat: Fahrrad fahren geht so gut wie immer. Oder der Crosstrainer, auf dem man ganz sicher schnell ins Schwitzen kommt. Egal, bei welchem Sport: Durchgeschwitzt zu sein – ein herrliches Gefühl!

Welche Vorsätze haben Sie für 2024?

Weiterhin Freude zu haben an meinem Tun, mir treu zu bleiben, und meine Disziplin zu bewahren. Schon als Kind gab es zum Beispiel auf dem langen Schulweg keine Rücksicht auf das Wetter. Morgen werde ich wieder joggen gehen. Es gibt keine Ausreden. Danach fühle ich mich immer wunderbar. Und ich möchte weiter Klavier spielen. Dabei bin ich in einer eigenen Welt, das ist für mich wie Meditieren.

Sie werden im August 82 Jahre. Wie lange wollen Sie noch arbeiten?

Das werde ich jeden Tag gefragt. Der Himmel wird mir zeigen, wann es genug ist. Solange der Himmel es weiterhin gut mit mir meint – arbeite ich. Ich kann mir ein Leben ohne meine Arbeit mit Patienten nicht vorstellen.

Ex-Bayern-Doc Müller-Wohlfahrt: Neue Therapie gegen die Volkskrankheit

Migräne weg ohne Chemie!

Artikel im Münchner Merkur / TZ vom 01. Juni 2023

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Artikel im Münchner Merkur / TZ vom 01. Juni 2023

Von Hanna Raif

Mehr als acht Millionen Deutsche leiden unter Migräne. Es ist eine Erkrankung, die wie ein Raubtier im eigenen Kopf wütet. Hans-Wilhelm Müller- Wohlfahrt, langjähriger Arzt des FC Bayern München, schwört auf eine Behandlung, die er selbst entwickelt hat. Auch ohne Medikamente, sagt er, sei eine Linderung möglich.

München – Das Bild des plüschigen Bären mag beim ersten Hinhören niedlich klingen. Aber wenn Ulla-Maria Augustyn den Satz „der Grizzly lebt bei mir in der Wohnung“ ausspricht, meint sie keineswegs ein nettes kleines Kuscheltier. Die Zahnärztin, 65 Jahre alt und gezwungenermaßen in Frührente, nennt das Raubtier, das seit fast 60 Jahren nicht verschwinden will, ein „Monster“. Regelmäßig wütet es in ihrem Kopf. „Du weißt nicht, wann es dich attackiert. Du weißt nicht, wie sehr es dich attackiert. Du weißt nicht, wie schwer verletzt du raus kommst.“ Ihre Stimme bricht, sie schluckt, spricht aus, was sie schon tausende Male erlebt, gedacht, gefühlt hat: „Du weißt nicht, ob du überhaupt rauskommst.“

"Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass wir Migräne-Patienten ohne Chemie behandeln können. Rein biologisch-homöopathisch. Und dass es funktioniert."

Ich kann die meisten schmerzfrei machen“, sagt Hans- Wilhelm Müller-Wohlfahrt über Migräne-Patienten.

Augustyn ist Migräne-Patientin, wie mehr als acht Millionen weitere Menschen in der Bundesrepublik. Die schwere neurologische Erkrankung trifft rund 15 Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer, die Dunkelziffer kommt hinzu. Man übertreibt nicht, betitelt man die regelmäßig auftretenden Kopfschmerzattacken als Volkskrankheit. Zwei von drei Deutschen leiden zumindest zeitweilig an Kopfschmerzen, nicht immer ist die Abgrenzung zur Migräne klar.

Im Fall von Ulla-Maria Augustyn gibt es keine zwei Meinungen. Mit sechs Jahren hatte die Schwarzwälderin ihre erste Attacke, mit 14 musste sie durch ihren ersten kalten Medikamenten-Entzug. Als „höchst suizidal“ bezeichnet sie ihren Zustand in Akutphasen und sagt über die zurückliegenden Jahrzehnte: „Ich habe in meiner Not und meinem Schmerz alles eingeschmissen, was es gibt.“

Wie ihr geht es vielen anderen. Augustyn sitzt in der Praxis von Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, als sie ihre Leidensgeschichte erzählt. Das fällt ihr nicht leicht, immer wieder betont sie den „Horror“, wenn sie „spuckend, leidend, alleine“ in ihrem Bett liegt. Aber ihr Beispiel soll anderen helfen. Im Scherz sagt sie zu Müller-Wohlfahrt: „Ich würde Ihnen abraten, das zu tun. Sonst müssen sie noch weitere 80 Jahre arbeiten.“ Der lacht nur. Seine Antwort: „Das will ich! Ich will helfen! Und ich möchte, dass all jene, die unter Migräne leiden, wissen, dass es Hilfe gibt.“

Müller-Wohlfahrt, langjähriger Mannschaftsarzt des FC Bayern München und Sport- mediziner mit Leib und Seele, hat mehr als 50 000 Muskelverletzungen behandelt. Die weltbesten Athleten gehen bei ihm ein und aus. Als Ulla-Maria Augustyn vor einigen Wochen in seine Praxis kam, „war ihre Geschichte der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“, erzählt er. Ihre Verzweiflung habe ihm die Augen geöffnet.

Seit Jahrzehnten weiß der 80-Jährige, dass er mit seiner aus der Sportmedizin entstandenen Therapie auch Migräne-Patienten helfen kann. Müller-Wohlfahrt geht noch weiter: „Ich kann die meisten schmerzfrei machen.“ Die Mission, die ihm zuletzt immer bewusster geworden sei: „Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass wir Migräne-Patienten ohne Chemie behandeln können. Rein biologisch-homöopathisch. Und dass es funktioniert.“

ohne medikamente ging nichts mehr

Anita Rebele hat die Behandlung geholfen. Schon vor 40 Jahren kam die Finnin nach einem Bandscheibenvorfall zum „Doc“, wie sie sagt. Und auch wenn der Nacken heute, mit 78, immer mal wieder zwickt: „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt Kopfschmerzen hatte.“ Dabei war die Migräne als junge Frau ein ständiger Begleiter, genau wie bei Giannina Knez und Adriana Bagaric. Mal häufiger, mal seltener; mal stärker, mal schwächer. Aber immer im Kopf.

Knez, 38, sitzt auf einem Stuhl und legt ihre Stirn auf den Behandlungstisch. Die langen Haare hat sie zu einem Dutt geknotet, der Nacken ist frei. Ab jetzt muss Stille herrschen, keiner spricht. Als Müller-Wohlfahrt drei Mal auf die kleine Spritze in seiner Hand klopft und tief durchatmet, weiß Knez: Die Erlösung naht. Zehn Nadeln setzt Müller-Wohlfahrt. Zunächst injiziert er ein Lokal-Anästhetikum, um dann die bei Muskelverletzungen seit Jahren bewährte Mischung um das Kälberblutpräparat Actovegin zu spritzen. Zehn Minuten volle Konzentration, dann sagt Knez: „Jetzt geht’s mir gut.“

Zehn Spritzen sollen bei Giannina Knez die Nackenmus- kulatur lockern und so die Migräne lindern.

Hinterhauptnerv im Migräne-Fokus

Bagaric, 28 Jahre jung und früher mindestens ein Mal im Monat arbeitsunfähig, nennt den Moment „Aha-Effekt“. Knez fügt hinzu: „Wie eine Klammer, die den Kopf im Griff hatte – und sich löst.“ In solchen Momenten klingt die Geschichte fast zu schön, um wahr zu sein, vor allem für Menschen wie Augustyn, die alles versucht hatten. „Man wird vollgepumpt“, sagt sie.

Die Verzweiflung von Migräne-Patienten trieb Müller-Wohlfahrt an, das Wirken seiner Therapie nun so zu ergründen, dass er es jungen Kollegen weitergeben kann. „Migräne-Behandlung heißt bisher Schmerzbehandlung“, sagt er. Ohne Tabletten, sagte ihm jüngst eine Patientin, konnte sie nicht mehr aus dem Haus gehen; sie waren überall gelagert, in jeder Skihose, Jacke, Handtasche und im Handschuhfach im Auto.

Von Ibuprofen über Triptane und Betablocker bis hin zu Antikörpern wurde schon alles erforscht; Sucht- und Depressionsgefahr inklusive. Der Ex-Bayern-Doc sieht die Hauptursache hingegen im Halswirbelbereich. Dass sie genau dort, zwischen dem zweiten und dritten Wirbel, gepackt werden könne, werde in der Wissenschaft bisher „komplett vernachlässigt“.

Müller-Wohlfahrt ist fast zufällig zu der Erkenntnis gelangt, die er in den zurückliegenden Monaten im engen Austausch mit dem renommierten Anatomen Prof. Michael Schünke herausgearbeitet hat. Während einer muskulären Behandlung sagte eine Patientin einst: „Was machen Sie da? Mein Tinnitus geht gerade weg.“ So erweiterte sich das Wissen um die Strukturen und Migräne-Ursachen stetig.

"Ich habe weniger Attacken, leichtere Attacken, muss massiv weniger Medikamente nehmen."

„Im Nacken gibt es so viele Muskelspindeln wie an keinem anderen Körperteil“, erklärt Müller-Wohlfahrt. Heute könne er mit Gewissheit sagen, dass der große Hinterhauptnerv – der „Nervus occipitalis major“, der unter anderem mit dem „Nervus trigeminus“ verschaltet ist – die Hauptschuld an Migräne-Attacken trage.

Wenn die Muskulatur verhärtet, durch die sich der sensible Nerv schlängelt, komme es, sagt Müller-Wohlfahrt, zu einem Reiz, der die typischen Symptome, unter anderem Übelkeit, Spannungskopfschmerz, und Lichtempfindlichkeit, auslöse. Insbesondere die Faszie des Halbdornmuskels (Musculus semispinalis) habe großen Einfluss.

Die Lösung liegt im Halswirbelbereich, sagt Ex-Bayern-Doc Müller-Wohlfahrt. Hier untersucht er Migräne-Patientin Giannina Knez.

Fotos: Markus Götzfried

Hier setzt Müller-Wohlfahrt an, zunächst mit seinen Händen, dann mit der Nadel. „Den Triggerpunkt“, sagt der Mann, der für seinen besonderen Tastsinn berühmt ist, „kann man fühlen“. Etwa „reiskorngroß“ sei die Struktur, die er treffen muss, damit sich „alles freimacht“.

Seine Patienten schickt er auch zu Osteopath Hub Westhovens. Sind die Blockaden gelöst und die Muskeln rund um die betroffenen Halswirbelbel entspannt, läuft alles Hand in Hand. Westhovens: „Zusammen machen wir aus eins und eins drei.“

Das aber, da ist sich Müller-Wohlfahrt sicher, können auch andere schaffen. Er möchte sein Wissen daher teilen. In Wochenendseminaren, bei Hospitanzen, egal wo: „Ich lasse mir gerne auf die Finger schauen. Ich will nur helfen.“ Augustyn sagt: „Das kann man ihm glauben.“ Während die besten Sportler der Welt im Gang auf den Doc warten würden, nehme er sie und ihre Beschwerden genau so ernst.

Vier Behandlungen hat sie hinter sich, drei im Abstand von einer Woche, die vierte eineinhalb Wochen später. „Ich habe weniger Attacken, leichtere Attacken, muss massiv weniger Medikamente nehmen.“ Wenn ihr Hund an der Leine zieht, blockiert nicht alles. Wenn sie Zug fährt, wacht sie nicht am nächsten Tag „im schwarzen Loch“ auf. Es ist mehr Lebensqualität da, mehr Selbstvertrauen. Plötzlich kommt sogar ein Lächeln auf Augustyns Lippen. Einen „Bulli-Van“ habe sie sich gekauft: „Ich will reisen, ich will leben!“ Der bedrohliche Grizzly darf daheimbleiben.

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WELT AM SONNTAG: Was hat Sie in diesem Jahr medizinisch ganz besonders beschäftigt? DR. HANS-WILHELM MÜLLER-WOHLFAHRT:

Das Thema Migräne, und wie ich es weiter vertiefen kann. Meine Kollegen Niklas Haberstroh, Andreas Schubert sowie mein Sohn Kilian und ich haben in unserer Praxis so viel Elend gesehen, was dieses Leiden betrifft. Migräneschmerzen können grausam sein und einem darüber hinaus sämtliche Energie und Lebensfreude rauben. Eine gefährliche Entwicklung aus den USA schwappt immer mehr zu uns nach Europa rüber: Eine Therapie mit den stärksten Schmerzmitteln, unter Zusatz von Opiaten. Davon werden die Menschen abhängig – und depressiv. In den USA gibt es extrem viele Selbstmorde aufgrund dieser Medikation. Manche Patienten leiden seit Jahrzehnten unter Migräne. Ich habe mir daher zu Beginn dieses Jahres eine Mission auferlegt: Herauszufinden, was die Migräne auslöst. Und wie ich besser helfen kann.

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